< zurück zur
Übersicht
Infoheft 2010.4 |
Nickern ist älter als gedacht
Nickern ist älter als gedacht
Natürlich nicht der heutige Ortsteil von Dresden. In einem
äußerst interessanten und gut besuchten Vortrag im
Palitzschhof machte uns Dr. Harald Stäuble vom Landesamt für
Archäologie mit der jungsteinzeitlichen Besiedlung in der
Dresdner Elbtalweitung bekannt. Einzelne Bodenfunde wie
Steinwerkzeuge, Spinnwirteln, Stichbandkeramiken und
Ansiedlungsreste waren in der Umgebung von Prohlis und Nickern
schon seit vielen Jahrzehnten bekannt. Die in die Keramik
eingestochenen Bandmuster verweisen auf eine Besiedlung in der
Jungsteinzeit von etwa 4800 bis 4500 Jahre vor Chr. Warum sich
gerade hier Menschen ansiedelten, wird aus einer
Übersichtskarte des Dresdner Raumes vom Landesamt für
Archäologie deutlich. Die Elbe (heutiger Verlauf stark
gezeichnet) war von einem breiten Sumpf- und
Überschwemmungsstreifen umgeben. Hier werden sich daher nur
kleinere Fischersiedlungen befunden haben. Die
jungsteinzeitlichen Menschen waren aber vorwiegend Ackerbauern
mit Nutztieren wie Pferden, Rindern, Schafen und Schweinen. Da
Kunstdünger noch unbekannt war, kam für einen erfolgreichen
Getreideanbau (Emmer, Einkorn) nur der nährstoffreiche Lößlehm
in Betracht, der vom Osterzgebirge an den Südwestrand des
Elbtales herabgeschwemmt und -geweht wurde. Dass diese
fruchtbare Bodenschicht mehrere 10 Meter dick ist, sieht man
an der Prohliser Lehmgrube. Das ganze Ausmaß der frühen
Besiedlungen wurde erst nach der Wende allmählich erkennbar,
nachdem nun auch im Osten systematische Luftbildaufnahmen
durchgeführt wurden. Die Technik dafür war bereits zu
DDR-Zeiten vorhanden (Multispektralkamera), wurde aber unter
strengen Sicherheitsvorkehrungen nur für militärische Zwecke
genutzt. Jetzt ist sie ein wichtiges Hilfsmittel der
Archäologie. Mit spezieller Farbfilterung lassen sich aus
diesen Aufnahmen geringste Unterschiede in der Färbung des
Bodens und des Pflanzenbewuchses erkennen, die auf flächige,
unter der Ackerkrume verborgene Bodenveränderungen hinweisen.
Dr. Harald Stäuble
mit Bild der Kreisgrabenanlage
Im Mittelpunkt des Vortrags standen die vier in Überresten
gefundenen Kreisgrabenanlagen längs des Geberbaches. Dabei
handelt es sich um V-förmige kreisrunde Gräben, deren Aushub
daneben als Wall aufgeschüttet wurde. Zwei dieser Anlagen
haben einen einfachen, eine einen zweifachen und eine einen
vierfachen Graben. Die Durchmesser liegen zwischen 50 und etwa
200 Metern. Die Gräben mit Wall könnten etwa 2 Meter tief
gewesen sein. Das Modell einer solchen Anlage von Steffen
Bösnecker wird gegenwärtig im Palitzschhof ausgestellt. Diese
Bauwerke ähneln der in der gleichen jungsteinzeitlichen
Periode entstandenen Kreisgrabenanlage von Goseck in
Sachsen-Anhalt, die ebenfalls erst 1991 entdeckt wurde.
Die Archäologen und auch wir stehen vor einem großen Rätsel.
Warum gab es in Nickern gleich vier dieser Bauwerke?
Möglicherweise haben sie nicht gleichzeitig, sondern über
einen längeren Zeitraum nacheinander existiert. Und welchem
Zweck dienten sie? Die Spekulationen reichen von
himmelskundlichen Observatorien, Kult- und Versammlungsstätten
bis zu Schutzbauten in Kriegszeiten. Keine der Deutungen lässt
sich eindeutig belegen und die Archäologen halten sich mit
Vermutungen sehr zurück. Unbestreitbar ist, dass diese Anlagen
für die Steinzeitmenschen eine große, vielleicht sogar
überlebenswichtige Bedeutung gehabt haben müssen. Man stelle
sich vor, welch gewaltige Arbeitsleistungen hier mit
Steinhacken, Holz- und Knochenschaufeln vollbracht worden
sind. Uns Dresdnern wird bewusst, wie vorteilhaft dieser
Siedlungsraum an der Elbe schon in der Steinzeit war und dass
wir hier die wahrscheinlich ältesten Großbauten Europas
vorfinden – viel älter als die Steinkreise von Stonehenge oder
die ägyptischen Pyramiden.
Eine kleine Zeittabelle der
Kulturgeschichte soll die Einordnung der Nickerner Fundstätten
veranschaulichen helfen. Einige Zeitmarken der
Kulturgeschichte Jahre vor Chr.
120 000 Beginn der letzten Eiszeit
100 000 Verbreitung der Neandertaler in Europa
60 000 Beginn der mittleren Altsteinzeit, Neandertaler und
anatomisch moderne
Menschen leben gleichzeitig in Europa
35 000 Beginn der späten Altsteinzeit,
20 000 Aussterben der Neandertaler in Europa
14 000 Ende der letzten Eiszeit
10 000 Mitteleuropa eisfrei
8 000 Beginn der Jungsteinzeit, Skandinavien noch vereist
5 500 Linienbandkeramik in Europa
5 000 Entwicklungsbeginn der Überschwemmungskulturen an Nil,
Euphrat und
Tigris
4 800 Kreisgrabenanlage von Goseck, vier Kreisgrabenanlagen
von Nickern,
Ackerbaukulturen auf Lößboden in Flußauen, feste Holzhäuser,
Werkzeuge
aus Stein, Holz und Knochen, Stichbandkeramik
3 000 Beginn der ersten Pharaonendynastie, erste Städte und
Großbauten,
Megalith-Kulturen in Europa, Steindenkmäler und steinerne
Grabanlagen
2 800 Baubeginn Stonehenge in England
2 600 Bau der Cheopspyramide (4. Dynastie)
2 500 Beginn der Bronzezeit im Mittelmeergebiet bis
Skandinavien, in Europa
Germanen, Kelten und Illyrer
2 000 Minospalast in Knossos / Kreta
1 780 Mykenische Zeit in Griechenland
1 600 Himmelsscheibe von Nebra
1 500 Bauende Stonehenge
1 279 Regierungsbeginn Ramses II. (19. Dynastie)
1 000 Beginn der Eisenzeit
450 Blütezeit Athens unter Perikles
334 Beginn des Feldzugs Alexanders des Großen
45 Julius Caesar regiert in Rom
0 Beginn unserer Zeitrechnung
Udo Mutze
|